Familie Erde

Um Vergebung bitten statt um Erlaubnis?

2021-11-27

Ein beliebter Spruch bei innovativen Disruptoren: Bitte lieber um Vergebung statt um Erlaubnis! Was ist daran falsch?

Zunächst mal bin ich entsetzt über einen Spruch, der sicher in vielerlei Kontexten sinnvoll ist, in seiner Absolutheit aber in der heutigen, extrem komplexen Welt großen Schaden anrichtet.

Fukushima hat gezeigt, dass Vergebung nicht immer und überall funktioniert. Wer unter den vielen Toten, die dieses atomare Desaster verursacht hat, würde den Urhebern denn verzeihen wollen? Und welcher Urheber müsste um Vergebung bitten? Das verheerende Erdbeben weit draußen am Meeresgrund oder die Erbauer:innen des Kraftwerks, die ihre Schutzwälle gegen Flutergeignisse als ausreichend hoch erachteten?

Vergewaltigung: Männer handeln dabei meist nach dieser Variante des Disruptoren-Spruchs: "Sie wird es sicher genießen, auch wenn sie mir nicht gleich die Erlaubnis gibt!". Und dann läuft die Sache - vorhersehbar - so sehr aus dem Ruder, dass es kaum noch zur Bitte um Vergebung kommen kann, so sehr ist das Opfer durch diesen grässlichen Akt männlicher Selbstermächtigung gedemütigt.

Ich höre schon den Einwand der Disruptoren: "In dieser Weise darf man uns aber nicht missverstehen!". Doch. Darf man. Weil solche gleichermaßen flott wie allgemein formulierten Sprüche vom Empfänger anders interpretiert werden können als vom Sender beabsichtigt. Und weil gerade die als Imperativ formulierten Floskeln leicht zu unerwünschtem Verhalten führen können. Wir haben - nicht erst seit der Digitalisierung mit ihrem "Alles ist machbar" - eine Flut unangenehmer Entwicklungen erlebt, für deren Folgen von den Urhebern weder um Erlaubnis noch um Vergebung gebeten wurde.

Ich gebe zu, dass es sehr viele Fälle gibt, in denen sich Folgen erst Jahre später zeigten. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo nur relativ kleine Gruppen potenziell Betroffener existieren und diese auch nur unter bestimmten Bedingungen geschädigt werden. Beispiele hierfür: Medikamente gegen Epilepsie, die - in der Schwangerschaft genommen - zu Behinderungen beim Kind führen. Oder - schon etwas länger her, dafür aber mit vielen schwerst Betroffenen: Contergan, ein Schlaf- und Beruhigungsmittel.
Contergan package freigestellt
Immerhin hat genau heute, am 27.11.2021, und damit genau 60 Jahre nach der Marktrücknahme von Contergan, ein Gesellschafter der Herstellerfirma Grünenthal die Betroffenen und deren Familene um Entschuldigung gebeten.

Oftmals kann man diese Art Fernwirkungen nicht durch Tests entdecken, weil sie nicht mit den gängigen / erlaubten Testmethoden zu provozieren sind.

In vielen anderen Fällen aber sind Risiken und Nebenwirkungen nicht nur absehbar, sondern werden auch in Kauf genommen, wie das noch immer bei den zerstörerischen Aufmerksamkeits-Algorithmen der sozialen Netzwerke ist. Von diesen Fällen spreche ich. Hier ist das Prinzip "Vergebung statt Erlaubnis" - das ja suggeriert, man würde alles mit bestem Wissen und Gewissen tun, und könne für die wenigen Fälle, in denen etwas unerwartetes passiert, um Vergebung bitten - schon deshalb pervertiert, weil der Schaden a priori bekannt ist und niemand aus wirtschaftlichen Gründen den Erfolgseintritt ("Mehr Werbeeinnahmen") durch Regularien verhindert bekommen möchte. Meine Kritik am Neoliberalismus (Deregulierung = "Weg mit den einschränkenden Regeln, damit ungebremst Wirtschaft betrieben werden kann!") resultiert genau aus dieser konkreten Anwendung des Prinzips.

Gute Ideen und konstruktive Entwicklungen zugunsten eines besseren Lebens sollen nicht verhindert werden. Ein erstickendes Regelwerk, welches alles kreative Potenzial abtötet, ist nicht nur das erklärte Feindbild der Neoliberalisten, sondern erscheint auch mir extrem ungeeignet, uns weiterzuentwickeln. Dies gilt für die Technik ebenso wie für die Weiterentwicklung unseres sozialen Lebens. Aus diesem Grund aber ein Prinzip zu befolgen, das ein (im besten Falle fürsorgliches) Risikomanagement in die Zukunft verlegt, erscheint mir im Hinblick auf die wachsende Komplexität menschengemachter Technik / Physik / Chemie mit allen potenziellen Nebenwirkungen dumm. Oder bewusst verklärend dargestellt, um sich erst dann mit dem Thema Entschädigung befassen zu müssen, wenn der Profit bereits eingestrichen wurde. Notfalls wird das entschädigungspflichtige Unternehmen dann ausgegründet und geht pleite. Vergebung light a la Neoliberalismus.

Das Prinzip "Bitte lieber um Vergebung statt um Erlaubnis" braucht niemand, der nicht auf Kosten anderer Lebewesen reich werden möchte. Wer gute kreative Lösungen entwickelt, hat ohnehin nur dann ein gutes Gefühl, wenn er bei reichlicher Abwägung zu dem Schluss kommt, dass man sehr sicher sein kann, keine Schäden zu erzeugen. Und das war - bei Licht betrachtet - schon bei den ersten Atomkraftwerken nicht der Fall. Oder gab es da ein Entsorgungskonzept, das sicher verhindert, dass die nachfolgenden Generationen mit Tonnen gefährlichen Mülls belastet werden?

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